Der Mythosbrecher 7: Tallinn wurde nicht befreit sondern erobert

20.09.2019

Der 22. September ist für viele Tallinner ein wichtiger Tag. Seit Jahrzehnten wird an diesem Tag die Befreiung Tallinns von den Eroberern des Hitlerdeutschlands  im Jahr 1944 gefeiert. In diesem Jahr sind seit jenem Ereignis 75 Jahre vergangen und diesmal wurde unter den Sternen des Kremls die Idee geboren, in Moskau zur Feier dieses runden Jahrestages ein Feuerwerk zu organisieren. Tatsächlich kann über dieses Ereignis nicht als eine Befreiung der Stadt gesprochen werden, weil ähnlich wie in mehreren anderen europäischen Hauptstädten mit dem Einmarsch der Roten Armee nach Tallinn eine Okkupation einfach nur gegen ein andere ausgetauscht wurde.

Mythos: Tallinn wurde von den Roten Armee befreit
Der Mythos behauptet, dass am 22. September 1944 die Rote Armee nach siegreichen Schlachten in Tallinn einmarschierte und diese von der deutschen Okkupation befreit hatte. Zu Ehre der in den Befreiungsschlachten gefallenen Kämpfer der Roten Armee wurde im Jahr 1947 in Tallinn auf Tõnismäe ein Denkmal aufgestellt, aus dem ein sehr wichtiger Symbol, der Bronzesoldat wurde. Die Eröffnung dieses Denkmals wurde beispielsweise im Jahr 1947 in einer Kinorundschau gezeigt.

Laut dieses Mythos sind am 22. September 1944 die sowjetischen Truppen mit einer estnischen Landungstruppe an der Spitze auf Tallinn marschiert. In der multinationalen Landungstruppe befanden sich neben den Esten Russen, Ukrainer, Weißrussen, Kasachen, Armenien und andere. Auf bemerkenswerten Wiederstand seitens des faschistischen Feindes ist man in der Nähe des Jüri Dorfes getroffen. Nach der siegesreichen Schlacht wurde in Tallinn einmarschiert, wo die Tallinner angeblich die Befreier mit Begeisterung begrüßt hatten. Auch die Arbeiter aus Tallinn haben nicht passiv abgewartet, sondern angeblich auf Eigeninitiative die Fabriken verteidigt und somit den Plan der Faschisten, Tallinn in Ruinen zu legeln, zum Scheitern gebracht. Die Soldaten der Roten Armee unter der Führung Leutnant Lumistes hissen auf dem Domberg, auf dem Turm des Langen Hermanns, die Rote Fahne. Am Abend um 22.30 hat Moskau für die Befreier Tallinns mit 24 Salutschüssen aus 324 Kanonen salutiert.

Ein wichtiger Teil dieses Mythos ist auch mit dem  im Jahr 1947 auf Tõnismäe eingeweihten und von dort im Jahr 2007 auf den militärischen Friedhof in Tallinn gebrachten Monuments der Befreier verbunden, die im Volksmund als der Bronzesoldat bekannt ist. Das Monument wurde ursprünglich auf einer Rasenfläche auf Tõnismäe aufgestellt, wo am 14. April 1944 die angeblich bei der Okkupation Tallinns gefallenen Soldaten der Roten Armee begraben wurden.

Wo wird dieser Mythos verbreitet?
Die sowjetische Propagandamaschine begann mit der Verbreitung dieses Mythos gleich nach der Machtübernahme auf dem estnischen Territorium. Der Historiker Marek Miil hat die in der sowjetischen estnischen Republik in den Jahren 1945 -89 in den Tageszeitungen „Rahva Hääl“ (Zu Dt.: Die Stimme des Volkes), „Noorte Hääl“ (Zu Dt.: Die Stimme der Jugend) und „Öhtuleht“ (z.Dt.: Abendblatt) veröffentlichten 299 Artikel, die der Befreiung Tallinns gewidmet sind, untersucht und fand heraus, dass sich in diesen Ausgaben am 22. September jedes Jahr dieselben konstruierten Komponenten der Narrative wiederholten. Zusätzlich zu den estnisch-sprachigen Medien wurde dieser Mythos auch in den anderen Ländern der Sowjetunion verbreitet.

Obwohl sich die Sowjetunion von der Bühne der Geschichte verabschiedet hat, lebt dieser Mythos in den kremltreuen Propagandamedien weiter. In den estnisch-sprachigen Medien wird der Mythos zum Beispiel von Sputnik am Leben gehalten. Dieses Jahr ist dieses Thema aktuell hauptsächlich wegen des Planes des Kremls in Moskau ein Feuerwerk zu organisieren, um damit den 75. Jahrestag dieses Ereignis zu feiern.

Im Jahr 2016 wurde in Russland in der Serie „Die Hauptstädte des von den faschistischen Eroberern befreiten Europas“ eine Fünf-Rubel-Münze mit Bronzesoldat drauf herausgegeben. Russia Beyond hat einen Überblick erstellt, wie die Rote Armee die europäischen Hauptstädte befreit hatte. Den Zeitplan über die in Moskau organisierten Feuerwerke kann beispielsweise hier angeschaut werden.

Warum wird dieser Mythos verbreitet?
Ein Grund diesen Mythos weiterhin zu verbreiten ist einerseits der Wunsch in Russland den in den Jahren der sowjetischen Macht extrem groß gewachsenen Narrativ des Großen Vaterländischen Krieges zu befestigen, woraus eine der wichtigsten Grundlagen des Selbstbewusstseins des russischen Volkes gebildet worden ist. Wenn der Zusammenbruch der Sowjetunion nach Ansicht des russischen Präsidenten Vladimir Putin die größte geopolitische Katastrophe des letzten Jahrhunderts war, so war der Sieg über den faschistischen Usurpator sein größtes Gelingen. Dies Anzufechten ist ein schwerer Schlag gegen die nationale Würde und das Selbstbewusstsein.

Der Mythos über die Befreiung von Tallinn schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe – er bestätigt die Legitimität der Gründung der Sowjetunion und kitzelt das Selbstwertgefühl eines jeden Russen als Befreier Europas vom Spuk des Faschismus.

Andererseits aber wird gewünscht, den in Estland lebenden russisch-sprachigen Einwohnern ein Misstrauen gegen den estnischen Staat und seine Institutionen einzuflößen, weil sich die hiesige offizielle Gesichtsbehandlung deutlich von der vom Regime Putins diktieren „Erinnerungspolitik“ unterscheidet und nicht die Anstrengungen und Opfer der Soldaten der Roten Armee im Kampf gegen den Faschismus verherrlicht.

Somit wird mit in den Gesellschaften der Nachbarstaaten mit diesem Mythos Verwirrung gestifftet und Spannungen zwischen den Ethnien verursacht. Der Mythos über die Befreiung Tallinns ist ein Teil eines größeren „Befreiungsmythos“, die die Propagandisten des Kremls an allen Staaten verbreiten, in dem je ein Soldatenstiefel der Roten Armee währen des zweiten Weltkriegs die Erde berührt hatte. So bat beispielsweise Bulgarien die russische Botschaft, den Einmarsch der sowjetischen Truppen im Jahr 1944 nicht als „Befreiung“ zu bezeichnen.

Wir widerlegen den Mythos
Der Hauptgrund, warum wir nicht über die Befreiung von Tallinn sprechen können, ist die Tatsache, dass sie am 22. September 1944 nach Tallinn einmarschierende Rote Armee gar nicht vor hatte, wieder zu gehen. Man kann denjenigen nicht Befreier nennen, der einen Besetzer nur aus dem Grunde verjagt, um selbst seinen Platz einzunehmen. An diesem Tag begann eine neue blutige sowjetische Okkupation in Estland, die erst beinahe ein halbes Jahrhundert später beendet wurde. Die letzten russischen Truppen haben Estland am 31. August 1994 verlassen.

Die Regierung, die von den russischen Armee gestürzt wurde, war keine Deutsche. Am 22. September 1944, als die Truppen der Roten Armee Tallinn erreichten, hatten die Deutschen die Stadt schon verlassen. Am 18. September war die recht- und verfassungsmäßig  gegründete Regierung Otto Tiefs im Amt. Seit dem 20. September wehte auf dem Turm des Langen Hermanns die blauschwarzweiße Fahne, keine deutsche Hakenkreuzfahne.

Weil sich in der Stadt keine Truppen des deutschen Militärs befanden, haben auch keine weitläufigen Verteidigungs- oder Befreiungsschlachten in Tallinn stattgefunden. Jedoch gab es kleinere Zusammenstöße hauptsächlich mit den Truppen der knapp einen Monat vor dem Einmarsch der Roten Armee gegründeten sogenannten „Pitka-Jungs“ und „Finnen-Jungs“ bzw. den in der finnischen Armee freiwillig kämpfenden estnischen Soldaten. Laut Vello Salo,  der den Finnen-Jungen angehörte, haben am 22. September in der Nähe der Jüri-Kirche einige Duzend estnische Soldaten und die Pitka-Jungs, von denen mindestens 12 Finnen-Jungs waren, gegen die Russen gekämpft. Auf der Gegenseite ist nur ein Kämpfer gefallen.

Der Militärarchäologe Arnold Unt stellt basierend sowohl auf den Erinnerungen von Überlebenden als auch nach den Verlustberichten der Sowjetunion fest, dass es kleinere Zusammenstöße auch in der Nähe von Nõmme und Pääsküla gab.

Auf Tõnismäe wurden im April 1945 tatsächlich die Überreste von 12 Soldaten der Roten Armee begraben. Es handelte sich um eine Umbettung von anderen einzelnen Begräbnisstellen. Durch die Auflösung der Einzelgräber wurden laut Unt auch Hapikalo, ein Soldat, der sich mit Methanol tot gesoffen hatte, der beim Marodieren erschossene Feldwebel Davõdov und die bei einem Verkehrsunfall verunglückte Soldatin Jelena Varšavskaja  zum „Befreier“ Tallinns. Die restlichen neun sind tatsächlich bei Gefechten in der Nähe von Tallinn gefallen.

Der Wahrheit entspricht auch der Fakt, dass am Abend des 22. Septembers im Turm des Langen Herrmanns die rote Fahne gehisst wurde. Aber wie Marek Miil in seiner Forschungsarbeit zeigt, hat sich die Liste der Fahnenhisser während der Jahre geändert. Während in den Jahren nach dem Krieg die in der Roten Armee dienenden Esten als Fahnenhisser benannt wurden, wurden in den späteren Jahren einige von diesen Namen durch Vertreter aus anderen Nationen ersetzt. Der angebliche Plan der Deutschen, beim Verlassen der Stadt viele Gebäude in die Luft zu sprengen und der tapfere Widerstand der Tallinner Arbeiter konnte bis jetzt nicht bewiesen werden. Allerdings hatten die sich zurückziehenden Deutschen Zusammenstöße mit den Pitka-Jungs, die Waffen von den Deutschen haben wollten, um den nächsten Besatzern entgegen stehen zu können.

Der Mythos ist widerlegt!
Weil die deutsche Besatzungsarmee am 22. September 1944 Tallinn bereits verlassen hatte und die am 18. September gegründete verfassungsmäßige Regierung der Estnischen Republik regiert hatte, konnte die in die Hauptstadt einmarschierende Rote Armee auf keine Weise Befreier sein. Es handelte sich um Eindringlinge und Besatzer, die es nicht vor hatte, wieder zu gehen.

Auch der hoffnungslose Widerstand der Pitka-Jungs, die sich auch mit den sich zurückziehenden Deutschen Gefechte geliefert hatten, gegen die angreifende Rote Armee zeigt, dass sie in Estland nicht nur mit Blumen als Befreier begrüßt wurden. Andererseits hatten bestimmt viele Kämpfer der estnischen Truppen in Tallinn Verwandte und Angehörige, die sich über das Wiedersehen aufrichtig gefreut hatten. Obwohl ein Teil der russisch-sprachigen Bewohner am 22. September den Jahrestag der Befreiung Tallinns von den deutschen Besatzern feiert, hat das Parlament diesen Tag im Jahr 2007 zu einem Tag der Widerstandskämpfe erklärt. An diesem Tag wird sich an den Sturz der estnischen Regierung und die Besetzung der Hauptstadt durch die russische Armee erinnert, worauf die erneute Annexion Estlands durch die Sowjetunion folgte.  Das Ende der faschistischen Okkupation in den baltischen Ländern hat den Weg frei gemacht für die nächste Besetzung, welche zehn Mal länger andauerte und den hiesigen Menschen unermessliches Leid bescherte.

Bilder: Die Soldaten der Roten Armee hissen im Jahr 1944 auf dem Turm des Langen Herrmanns die rote Fahne. Propagandaplakat der Sowjetunion, um über die Okkupation Tallinns zu informieren. Quelle: Australian War Memorial.

Blau-Schwarz-Weiße Flagge am Turm des Langen Herrmanns heute. Foto: Guillaume Speurt /Flickr / CC