Mythosbrecher 6: Die Nato sammelt Truppen in den baltischen Staaten, um Russland anzugreifen

23.07.2019

Die NATO hat begonnen seine Truppen an der Ostgrenze Russlands zu sammeln und macht sich zum angreifen bereit, schreibt die Propagandamaschine des Kremls. Der Mythosbrecher schaut hinter die Kulissen dieser Narrative und recherchiert, wie die Sachlage bezüglich des militärischen Gleichgewichts und der Aggressivität in den hiesigen Gebieten tatsächlich ist.

Mythos: Die NATO ist aggressiv und sammelt in den baltischen Staaten die Truppen.

 „Das Baltikum wird wieder für einen Krieg mit Russland vorbereitet“, „Aufmarschgebiet in der Nähe russischer Städte: wie die NATO seine militärischen Aktivitäten im Baltikum steigert“, „Die größten Manöver in Estland: ein altes Grammofon, das vom Gleisgequitsche der NATO begleitet wird“ – Berichte mit solchen Schlagzeilen werden sowohl in den russisch-, englisch- als auch estnischsprachigen Medien, die unter der Kontrolle des Kremls stehen, in der letzten Zeit ziemlich oft veröffentlicht. Dieses Thema wird besonders vor und während militärischer Manöver in den Fokus geschoben.

Was behauptet dieser Mythos?
Die kleinen und bösen baltischen Staaten hetzen ihre NATO-Verbündeten gegen Russland auf und versuchen, sie mit der tatsächlich nicht existierenden Gefahr einer Aggression Russlands einzuschüchtern. Deswegen hat die NATO begonnen, ihre Truppen in den baltischen Staaten zusammenzuziehen und verhält sich hier sehr aggressiv, indem sie die gegen den Ostnachbarn gerichteten militärischen Manöver organisiert und damit das friedliebende Russland dazu zwingt, auch seine Verteidigung zu verstärken.

Als wichtige Nuance kam im letzen Jahr die Ansicht hinzu, dass es sich hauptsächlich um eine von den USA initiierte Aggressivität handelt, die mit Hilfe seiner hiesigen Handlanger, den baltischen Staaten und Polen, seine NATO Verbündeten aus den europäischen Großstaaten zwingt, sich gegenüber Russland unfreundlich zu verhalten. Im Grunde möchten die europäischen Großstaaten freundschaftliche Beziehungen zu Russland unterhalten, aber die wirtschaftlichen Interessen der USA (Verkauf von Flüssiggas und die Waffen von USA) verhindern diese natürliche Freundschaft.

Warum wird dieser Mythos verbreitet?
Der Kreml schafft in Russland auf diese Weise die Gestalt eines Feindes, dessen aggressives Verhalten ein Grund für verschiedene Probleme ist (zum Beispiel die Wirtschaftssanktionen, das Stagnieren bei der Nord Stream 2). Auf den so geschaffenen Feind kann der Unmut der Einwohner gelenkt werden. Andererseits ermöglicht die Bedrohung durch einen mächtigen Feind und der Kriegsgefahr, den Verteidigungswillen des Volkes zu mobilisieren, große Verteidigungsausgaben zu begründen und die Aufmerksamkeit von den genannten Problemen abzulenken.

Den sich im Wirkungsbereich dieses Mythos befindenden Einwohner der baltischen Staaten wird die Botschaft vermittelt, dass sie nur unbedeutende Schachfiguren in einem großen Spiel sind, in welchem die Mächtigen der hiesigen Welt bereit sind, sie für ihre Interessen als Opfer zu bringen. Das Vertrauen in die staatlichen Institutionen und die Führung wird untergraben, es wird bestätigt, dass die verstärkte Anwesenheit der Verbündeten die Wahrscheinlichkeit eines militärischen Konflikts steigert, in welchem die Hauptleidenden die lokalen Bürger sein würden. Es wird Unsicherheit in die Zukunft gesät und es wird versucht, eine unfreundliche Einstellung gegenüber der NATO zu bilden.

International geht es darum, die Einheit der NATO zu spalten, Meinungsverschiedenheiten zwischen den Verbündeten zu sähen und die Einwohner der NATO-Mitgliedstaaten davon zu überzeugen, wie unnötig die Verteidigungsausgaben der NATO sind. Es wird versucht, die baltischen Länder als Handlanger der USA, die unangenehme Streithähne sind, zu zeigen und Russland als einen friedenliebenden Staat, der gezwungen ist, seine militärische Präsenz in diesem Gebiet lediglich als Antwort auf die wachsende Aggression der NATO zu erhöhen.

Wir widerlegen diesen Mythos
Der Mythos behauptet, dass die NATO ihre Präsenz in den baltischen Ländern vergrößert und dies eine Gefahr für die Sicherheit Russlands ist. Wahr ist, dass im Juni 2016 die Führer von 28 NATO-Mitgliedstaaten in Warschau an einem Spitzentreffen wegen der sich verändernden Sicherheitslage teilnahmen und entschieden hatten, Truppen der NATO in Estland, Lettland, Litauen und Polen zu stationieren. Die Größe der im Frühling 2018 nach Estland verlegten und in Tapa zur 1. Heeresbrigade der Streitkräfte gehörende Battlegroup beträgt etwa 1200 Soldaten. Ähnliche Truppen befinden sich auch in Lettland, Litauen und Polen. Wie aber beeinflusst dies das Gleichgewicht der Kräfte in der hiesigen Region?

Zunächst aber müssen wir uns darüber einigen, was wir genau miteinander vergleichen. Niemand bezweifelt wahrscheinlich, dass NATO als Ganzes militärisch tatsächlich viel mächtiger ist als Russland mit seiner potenziellen Verbündeten. Wenn wir aber über die baltischen Staaten sprechen, wird es entscheidend sein, wie schnell die verschiedenen Seiten ihre militärischen Kräfte hierhin schicken können.

In dem im Jahr 2016 vom Internationalen Zentrum für Verteidigungsstudien gefertigten und von der Kommission für Landesverteidigung des Parlaments bestellten Bericht, in dem die militärische Lage der Nato und Russlands im Ostseeanrainergebiet verglichen werden, wurde vermerkt, dass die militärischen Kräfte der westlichen Staaten in der hiesigen Region nicht sofort verfügbar sind.

„Russland verfügt über eine hochintensive Fähigkeit zur Kriegsführung, welche in der Lage ist, das Übergewicht der NATO in allen Bereichen einer Kriegsführung in Frage zu stellen. Die Fähigkeit A2/AD Russlands (Verhindern des Zugangs- und der Handlungsfreiheit) ist in der Lage, die Zugangs- und die Handlungsfreiheit der NATO-Kräfte in der Luft, auf See und an Land im gesamten baltischen Operationsgebiet auszuschließen“, heißt es in diesem Bericht.

Somit kann zumindest am Anfang eines möglichen Konflikts nur mit den Kräften gerechnet werden, die bereits vorhanden sind – vor allem die eigenen Streitkräfte der baltischen Länder sowie die anwesenden Truppen der Verbündeten einerseits und der westliche Militärbezirk Russlands andererseits.

Das Amt für Außenaufklärung Estlands konstatiert in seinem diesjährigen Jahrbuch, dass Russland im Jahr 2018 das Verstärken seiner militärischen Kräfte an seiner Westgrenze fortgesetzt hat. Die russischen Streitkräfte bildeten sieben neue Manöverregimente (ein Regiment besteht aus 2-5 Bataillonen), von deren vier Panzerregimente sind, die alle weniger als 50 Kilometer von der Grenze stationiert sind. Laut der Einschätzung des Außenaufklärungsamtes bereiten sich die russischen Streitkräfte in westlicher Richtung auf den möglichen großen Krieg vor

Schon früher waren die Manövertruppen des Heeres im westlichen Militärbezirk Russlands in der Lage, 13-15 Bataillone in taktischen Gruppen (vergleichbar mit fünf Manöverbrigaden) aufzustellen.  Luftlandetruppen können ebenso bis zu 15 taktische Gruppen aufstellen, dazu kommen zwei bis drei bataillonsgroße taktische Truppen Marineinfanteristen. Insgesamt ist es für den westlichen Militärbezirk Russlands möglich, im Kriegsfall sogar bis zu 400 000 Soldaten zum Einsatz zu bringen.

Estland, Lettland und Litauen haben verhältnismäßig kleine Streitkräfte. Das Rückgrat der militärischen Strukturen in den baltischen Staaten bilden leichte Landstreitkräfte und sie haben beinahe keine Luft- und Seekampffähigkeit. Estland stützt sich auf die von den ehemaligen Wehrpflichtigen gebildeten Reservearmee, Litauen und Lettland aber hauptsächlich auf eine Armee von Berufssoldaten, obwohl Litauen vor einigen Jahren wieder die Wehrpflicht eingeführt hatte.

Estland hat nur eine Kampfeinheit in Bataillonsgröße, die aus Berufssoldaten besteht und daher ist es nötig, Reservisten zu mobilisieren, um die Größe der Streitkräfte für einen Kriegsfall zu erreichen, deren Hauptteil aus 21 000 Mann bestehen würde. Derzeit bestehen die Bodenkomponente der Operativstrukturen aus zwei Infanteriebrigaden und einer auf der Defence League basierenden Landesverteidigungsstruktur. Insgesamt etwa 58 000 aktive Soldaten und bis zu 42 000 Reservisten.

Die lettische Armee besteht aus einer leichten Brigade, dessen Kern zwei Kampfbataillone bilden. Zudem gibt es die freiwillige Landesverteidigung (Zemessardze), eine Reservearmee. Insgesamt etwa 5300 aktive Soldaten und 8000 Reservisten.

Zum litauischen Heer gehören eine mechanisierte Infanteriebrigade „Eisenwolf“, territoriale Verteidigungseinheiten und eine weitere, überwiegend mit der Ausbildung von Wehrpflichtigen beschäftigte Brigade. Insgesamt etwa 11 500 aktive Soldaten und 10 000 Reservisten.

Somit schaffen es Estland, Lettland und Litauen gemeinsam insgesamt fünf bis sechs Brigaden aufzustellen, die von territorialen Verteidigungseinheiten unterstützt werden. Die Heerestruppen der baltischen Länder bestehen überwiegend aus leichter Infanterie mit eher begrenzter Panzer- und Feuerunterstützung.

In den baltischen Staaten und Polen hält die US-Armee derzeit ständig wechselnd kompaniegroße Einheiten für Ausbildung und Manöver vor. Im Jahr 2017 kamen die ca. 1200 Mann großen Battlegroups der Alliierten in Estland, Lettland, Litauen und Polen dazu.

Eine einfache Berechnung zeigt, dass sogar dann, wenn die Kampftechnik nicht mit eingerechnet wird, die menschliche Übermacht des Gegners in dieser Region vielfach ist und die Einheiten der Verbündeten an diesem Verhältnis nicht wirklich viel verändern. Daher kann nicht von irgendeiner, die Sicherheit Russlands gefährdeten Ansammlung von Truppen der NATO gesprochen werden, eher ist die Entsendung der alliierten Truppen in diese Region eine Antwort auf die aktive Vergrößerung der militärischen Kräfte Russlands.

Beim Reden über Aggressivität muss ebenso erwähnt werden, dass eher die russischen Streitkräfte mit ihrem provozierenden Verhalten an ihrer Westgrenze aufgefallen sind, als die NATO. Im Rahmen eines Projekts in Zusammenarbeit des Schwedischen Think Tanks Frivärld und dem McCain Institut der Arizona Universität wurden innerhalb von zwei Jahren, vom Oktober 2016 bis November 2018 in der Nordischen und Baltischen Region insgesamt 79 verschiedene provokative Fälle, die alle mit Russland in Verbindung standen, aufgezeichnet. Zusätzlich zu den schon routinemäßigen Verstößen gegen die Luftgrenzen durch russische Flugzeuge (271) sind die russischen Militärübungen in diesem Gebiet auch umfangreicher als die der Alliierten. Am Großmanöver  Zapad 2017 nahmen laut russischer Medien ca. 100 000 Soldaten teil, nach Einschätzung unabhängiger Experten waren es allerdings etwas weniger. Das größte Manöver der NATO in den letzten Jahrzehnten war das in den nordischen Ländern kürzlich stattgefundene Trident Juncture 18, an dem 50 000 Menschen, 10 000 Fahrzeuge, 250 Flugzeuge und 65 Schiffe aus 31 Staaten teilgenommen hatten. An dem größten militärischen Manöver seit der Unabhängigkeit Estlands, Siil 2018 (auf Deutsch: Igel 2018) haben etwas über 15 000 Wehrpflichtige, Reservisten, aktive Soldaten, Mitglieder der Defence League, Mitglieder der freiwilligen Frauenorganisation „Heimatschutz“ (Naiskodukaitse) und die Soldaten der Alliierten teilgenommen.

Mythos widerlegt!
Man kann nicht über eine wie auch immer geartete militärische Aggression seitens der NATO an der russischen Westgrenze reden, wenn das tatsächliche Kräfteverhältnis in diesem Gebiet deutlich für Russland spricht. Die NATO war gezwungen ihre Verteidigungspläne zu überdenken und die Präsenz von Truppen in diesem Gebiet zu erhöhen, als Reaktion auf den Anstieg der militärischen Kapazitäten Russlands und seiner Aggressivität. Der unabhängigen Denkfabrik RAND Corporation zufolge wäre eine noch stärkere Präsenz von NATO-Truppen im Baltikum erforderlich, um ein Gleichgewicht der Kräfte und eine wirksame Abschreckung zu gewährleisten.

Bild: Screenshot aus auf dem in diesem Bericht hingewiesenen Artikel. Grafik: Propastop.